Samstagmorgen haben wir uns mit einer Graukittel-Begegnungsanleitung vertraut gemacht, die uns eine liebe Freundin, nach meinem letzten Wildschweinkontakt heute zugeschickt hat.
Gegen 10 Uhr sind meine Tochter und ich mit diesen Hinweisen  innerlich bewaffnet, raus in den Wald gelaufen. Verknüpfung von Theorie  und Praxis. Die ersten Atemzüge pressten kalten, hoch komprimierten  Sauerstoff in unsere noch schlaftrunkenen Lungenflügel. Die  angrenzende Pumpstation musste dadurch angespornt recht schnell ihre  Taktzahl erhöhen. Relativ ungestüm, aber trotzdem vorsätzlich, verließen  wir den aeroben Wohlfühlbereich. Die zügig, sofort eintretende  Sauerstoffschuld trübte zeitnah unsere Wahrnehmungskraft. Sehr rasch  stellten sich die ersten uns stets begleitenden und somit wohlbekannten  Halluzinationen ein. Bereits ein wenig eingelullt, rüttelte uns das kurz  vor dem Einnicken befindliche Unterbewusstsein urplötzlich auf und  machte uns auf eine mögliche Großgefahrenquelle 100 Meter voraus  aufmerksam. Schlagartig wurden unsere, durch regelmäßigen Ausdauersport  gestählten Körper mit Adrenalin randvoll geflutet. Schock, schwere Not.  Schei...ein Graukittel-Frischling, mitten auf UNSERER Laustrecke. Wir  wähnten hinter uns, durch weitere Geräusche verunsichert, eine  zusätzliche Lebensgefahr. Rückblickend sollte sich dies jedoch als eine  widerwärtige, geradezu bösartige Laune unserer ebenfalls von 0 auf 100  aufgeschreckten, abgrundtief verächtlichen Fantasie herausstellen.
Mit  dem Mut der Verzweiflung und mit zwei trockenen Happen Theorie  gerüstet, komischerweise aber immer noch total verunsichert, näherten  wir uns unserem ersten praktischen Wildschwein-Anwendungsfall. Mit jedem  Schritt wuchs  unsere Verunsicherung in Deine noch so gutgemeinte  Gebrauchsanweisung. Kääner: Freunde und/oder doch nur Feinde....... aber  genau in diesem Augenblick zerplatzte der angsteinflößende Erstverdacht  ähnlich einer aufgespießten Seifenblase.
Der noch aus der Ferne  vermutete stattliche Frischling war weder grau noch braun sondern eher  schmutzig hellblau einfärbt. Und als besonderer Clou, als Wunder der  Natur, konnte dieses  Ferkelchen sogar auf zwei Beinen laufen.  Schlagartig hatten wir unseren noch nicht erprobten, aber bereits  hektisch hervorgekramten  "Duuuu-du-wilde-Sau-WIR-haben-dich-gesehen-Schlachtruf" wieder  eingetütet und lernten nach weiteren Schritten der Erleichterung, aber  immer noch mit tennisballgroßen Angstperlen auf der Stirn, Dominik, 5  Jahre alt, kennen. "Na. Bei mir ist alles in Ordnung. Meine Mutter ist  da vorne und spielt mit unserem Hund Hero." Ok ok, das machte Sinn, das  klang plausibel, das war toll. Dominik wirkte aufgeschlossen, motiviert,  sicher und absolut nicht ängstlich. Unsere Beinmuskulatur genoss die  unerwartete Pause in vollen Zügen. Mit einer geballten Portion  Lebenserfahrung an Bord beschlossen wir mit Dominik gemeinsam  Sichtkontakt zu seiner "Bache" aufzunehmen. Wie bereits befürchtet, war  diese jedoch weit und breit nicht zu sehen, zu hören, oder auch nur zu  riechen. Das Problem löste sich somit nicht so schnell wie anfangs  vermutet. Also packten wir unsere Supermann-T-Shirts aus und widmeten  uns zu 100% dieser neuen Aufgabe. Meter für Meter wuchsen jedoch unsere  Zweifel an einer zeitnahen Rudelzusammenführung. Dominik hingegen trieb  uns immer weiter in den nach Moder und Fäulnis stinkenden düsteren Wald.  Als wir schließlich unseren letzten Brotkrumen auf den Boden fallen  ließen, trafen wir eine tiefgreifende, radikale und ebenso mutige  Entscheidung. Meine Tochter und ich trennten uns. Wir wünschten uns gegenseitig  viel Glück auf unseren unterschiedlichen Wegen. Ich versuchte mich mit  Dominik in Richtung Zivilisation durchzuschlagen während meine Tochter die nicht  minder spannende Aufgabe erhielt, alle Brotkrumen bis zu der Stelle  unseres Erstkontaktes mit dem kleinen Blaukittel und darüber hinaus  einzusammeln. 
Dutzende Minuten marschierten wir ohne Pause einem  unsicheren Ende entgegen. Geschwächt, dehydriert und schier  hoffnungslos näherten wir uns den Außenbezirken des  naturverschlingenden, grenzenlos unersättlichen und fremdenverachtenden  Molochs namens Rinsdorf. So oft sich Dominik auch an Dinge erinnerte, so  oft blies er die schwach lodernde Flamme meiner Hoffnung auch wieder  aus. Aber irgendwann, den Glauben an ein glückliches Ende mehrfach  begraben, war es dann doch so weit. Dominik nahm eine neue Spur auf und  fühlte sich immer sicherer den richtigen Weg gefunden zu haben.   Schnurstracks lotste er uns durch die Favelas dieser sich vor uns  ausbreitenden urbanen Riesenkrake. Von weitem konnten wir bereits eine  kleine, wild gestikulierende Menschentraube ausmachen. Als man uns sah,  löste sich urplötzlich das Gemisch aus Trauer und Verzweiflung in eine  nicht beschreibare Freude und Erleichterung. 
Die  Familie und die komplette Nachbarschaft suchten bereits seit geraumer  Zeit zu Fuß und mit Autos den Wald vergebens nach Dominik ab. Die Mutter  musste sich während ihres Spazierganges im Wald um ihren  altersschwachen Schäferhund kümmern. Dem Hund versagt lähmungsbedingt  regelmäßig das komplette hintere Fahrwerk. Während dieser Zwangspausen  spielte Dominik auf dem Waldweg. Aber irgendwann ist der Kleine dann  wohl zu weit weggelaufen und hatte komplett die Orientierung verloren.  .... der Rest ist ja bereits bekannt.
Quintessenz: Jogger, sind die besseren Menschen !!!!   ;-)
Den anschließenden Lauf haben wir dann mit einem sehr guten Gefühl fortgesetzt.