Donnerstag, 14. Juni 2012

Mein 1. (!!!) 100er bei den 54. Bieler Lauftagen 2012

Geschafft: 

Mit einer Gesamtzeit von 10:51:47 bin ich überglücklich über die Ziellinie in Biel gelaufen !!!


Im Rückblick die entscheidenden Stunden vor dem Überlaufen der Ziellinie:
 
Jetzt ist es endlich so weit. Das Training der letzten Monate hatte einen großen Teil meiner Freizeit gefordert. Viele meiner Gedanken drehten sich in den letzten Wochen um diese 100km in Biel, gepaart mit der Befürchtung dieser außergewöhnlichen Belastung zum Schluss doch nicht gewachsen zu sein.

Um bei meiner ersten Teilnahme an diesem einzigartigen Nachtlauf auf alles vorbereitet zu sein, hatten meine Frau und ich beschlossen, bereits an dem Donnerstag, 7.Juni 2012 anzureisen. Wir wollten uns so die Möglichkeit beiten die ganze Atmosphäre innerhalb der Stadt und besonders im Bereich des Kongresscenters ausgiebig zu  genießen. Einige Finisher vergangener Jahre machten bereits überall in der Stadt Werbung für diese einmalige Veranstaltung. Probleme mit der Ausrichtung 2011 sorgten vielleicht im Vorfeld für eine kleine Delle in Bezug auf die bisher gemeldeten Teilnehmer. Ohne dem Fazit vorzugreifen, sollte diese Veranstaltung 2012 jedoch für einen Ausschlag in genau die andere Richtung sorgen. Dieser Lauf hat auch zukünftig wieder mehr Teilnehmer verdient, denn was Herr Etter, sein Organisationsteam, die öffentlichen Behörden der Stadt Biel und alle ehrenamtlichen Helfer hier auf einer Länge von 100km auf die Beine gestellt haben, sucht wirklich seinesgleichen.
Am Donnerstagnachmittag hatten  wir uns nach dem „Check In“ bei schönem Wetter die Bieler Altstadt und den See angeschaut. Ein lauschiges Kaffee am Ende eines kleinen Parks in Seenähe lud zum Verweilen und Entspannen ein. Im Westen aufziehende Wolkenberge verhießen jedoch keinen ungetrübten Abend. Die diversen Wetterberichte, die ich bereits seit Tagen studierte, hatten uns bereits vorgewarnt.
 
Nachdem wir uns mit der Infrastruktur im Start-/Zielbereich vertraut gemacht hatten, schauten wir uns die Kinderläufe der Bieler Lauftage an. Mit allem was an Nervenkitzel, Spannung, Erfolg und Enttäuschung dazu gehört, konnten so bereits die ganz Kleinen ein wenig Wettkampfluft schnuppern. Mit dem nötigen Feingefühl für die zukünftigen 100km-Läufer/innen wurden die unterschiedlichen Jahrgänge auf ihre Strecke geschickt. Das sich bereits andeutende Unwetter sorgte kurz vor dem Ende dieser Kinderläufe jedoch für Aufregung unter den Eltern, den Verantwortlichen und den Ausstellern.
 
Für Donnerstagabend war die erste Ausgabemöglichkeit der Startunterlagen für die „Erwachsenenläufe“ vorgesehen. Kurz nach 18:30 Uhr wurde die immer länger werdende Teilnehmerschlange endlich in das Foyer des Kongressgebäudes eingelassen. Sofort bildeten sich große Menschentrauben vor den entsprechend markierten Ausgabestellen der Startunterlagen. Der „Militärschalter“ musste dabei die kürzeste Warteschlange bewältigen. Aber alles Ärgern brachte nichts, denn gemessen an meiner geplanten Laufzeit, dauerte dieses Anstehen nicht annähernd so lange. Denn mit etwas Geduld wäre man nach 19:30 Uhr komplett ohne Anzustehen direkt bis zum Ausgabeschalter der 100km-Distanz gelangt. Also, abgelegt unter der Rubrik Erfahrungswerte. So konnte ich jedoch während des Wartens litfaßsäulenartig tapezierte Läufer sehen, die keinen Hehl aus ihren letzten Lauferfolgen machten. Für mich als Ultralaufstreckennovizen stand hier schon eine geballte Ladung an Laufkilometer um mich herum.

 
Jetzt kann es losgehen, die Startnummer ist in meinem Besitz. 

Meine Frau spielte zwischendurch mal Platzhalter, damit ich mich kurz den Tischen mit den Erinnerungsangeboten dieser Laufveranstaltung zuwenden konnte. Das Angebot war jedoch noch nicht vollständig und die freundlichen Damen hinter den Tischen konnten auch noch keine Preise zu den bereits ausgelegten Stücken treffen. Das war zwar in dem ersten Augenblick zwar ein wenig ärgerlich, aber meinem Wunsch folgend, hat man mir 2 Aufnäher beiseitegelegt, damit ich sie später käuflich erwerben konnte. Vielen Dank dafür. Die begehrten Aufkleber gab es auch noch nicht, aber spätestens morgen sollte auch diese Angebotslücke geschlossen sein, versprach man mir in freundlicher und verbindlicher Gelassenheit.
Das Unwetter lag in den letzten Zuckungen, so dass wir uns von der Ausstellermesse losreisen konnten. Anschließend setzten wir uns mit der großzügigen Preisgestaltung eines Abendessens in der Schweiz auseinander. Auch das sucht seinesgleichen. Die Nacht zum Freitag schlief ich erstaunlicherweise gut. Nach einem ausgiebigen Frühstück am Starttag führte uns das schlechte Wetter in die Haupteinkaufspassage von Biel. Dort versuchten wir ein wenig Zeit totzuschlagen. Mittags war dann „Carboloading“ angesagt. Das inzwischen aufkommende Kribbeln ließ sich jetzt nicht mehr unterdrücken. Mein flehender Versuch die Startnummer meiner Frau kostenlos zu überlassen, scheiterte erwartungsgemäß kläglich. Auch die Konfrontation mit dem von ihr vor über 25 Jahren zugestimmten Trauversprechen „...in guten wie in schweren Tagen...“ ließ sie kalt und sie beharrte ganz lapidar auf dem Spruch mit der Suppe und dem entsprechenden Löffel. Tja, irgendwie hatte sie auch recht damit.

Jetzt stand Ausruhen auf dem Programm. Dies unterbrachen wir nur einmal mit einem erneuten kurzen Sparziergang zum Start-/Zielbereich. Das „unruhige Pferdchen“ musste halt noch mal auf die Weide um sich die Beinchen zu vertreten. Irgendwie hatte ich das Gefühl möglichst viel von der Atmosphäre aufnehmen zu müssen. Anschließend wurde die unterbrochene Ruhepause fortgesetzt. Ein allerletztes Stück Festnahrung in Form eines vollkornfreien Brötchens gönnte ich mir um 18:30 Uhr. Mit dieser Essstrategie wollte ich die erlebten Magenprobleme an meinem Generalprobenlauf vor einigen Wochen verhindern. Das sollte mir zum Glück auch gelingen.

Da ich keinem zumuten wollte mich als Fahrrad-Coach zu begleiten, war es nun an der Zeit meinen  Salomon Trailrucksack „Advanced Skin S-Lab 12 Set“ mit dem Nötigsten für unterwegs zu packen. 

Dazu gehörten:
Pflaster
Notfallenergieriegel
Toilettenpapier
Ersatzsstümpfe
Ersatzshirt
Dünner Regenschutz
Laufhandy
Fotoapparat
Meine Startnummer befestigte ich an meinem Laufnummernband und sorgte mit einer zusätzlichen Sicherheitsleine dafür, den DATASPORT-Chip nicht versehentlich zu verlieren. Nachdem auch ich endlich in meinen Laufdress steckte und sich meine marathonerfahrenen Asics Nimbus 13 doppelverknotet an meinen beiden Füßen befanden, machten wir uns um 20:45 Uhr auf den Weg zum Kongresszentrum. Eine Inliner-Veranstaltung sorgte bereits für großartige Stimmung im Bereich des Zentralplatzes von Biel. Dort entdeckte ich auch ein mir bisher unbekanntes 4er-Dixigesstell. Extrem praktisch zum Zeitsparen für zusammenlaufende männliche 4er-Kleingruppen.
Die Spannung im Kongressgebäude und im Start-/Zielbereich konnte man inzwischen förmlich mit den Händen greifen. Überall suchten die Läufer/innen und deren Begleiter ein Plätzchen, um noch ein wenig abschalten zu können. Wir nutzen die Zeit um uns endlich die ersehnten Aufkleber zu kaufen.
Im Kongressgebäude gingen wir anschließend zu einen Treppenaufgang, um sitzend den unruhigen Beinchen noch etwas Entspannung zu gönnen. Neben einem Militärläuferpaar nutzen einige weitere Teilnehmer diverser Distanzen diese Minitribüne zur Tiefenentspannung.
Kurz nach 21:30 Uhr hielt es dann fast niemanden mehr auf den Sitzen. Langsam aber sicher machten sich die Teilnehmer des 100km-Laufes auf den Weg, um in dem Startsektor mit ihren Hufen zu scharren. Ich stand im Startkäfig während meine Frau durch ein Absperrgitter von mir getrennt in absoluter Sicherheit war. Unaufhaltsam machte sich in meinem Kopf das tatsächliche Ausmaß dieser im Februar 2011 gefällten Entscheidung breit, in dieser nun kommenden Nacht 100 Kilometer an einem Stück zu laufen.

„Ich will es schaffen.
Ich muss es schaffen.
Ich kann es schaffen.
Ich werde es schaffen.“


Sinnvolle Ansätze eines Kommunikationsversuchs waren ab diesem Zeitpunkt zum Scheitern verurteilt. Betreuer, Mitgereiste, Freunde und Partner versuchten mit diversen Motivationsaussagen ihre vor sich hin tänzelten Nervenbündel ein wenig zu beruhigen. Die roten Leuchtziffern über dem Startband signalisierten den immer näher rückenden, drohenden Start. Trotz aller Verunsicherungen kam in diesen letzten Minuten bei mir doch noch die Freude auf, endlich das zu genießen, auf das ich mich so lange und so intensiv vorbereitet hatte. 10  9  8  7  6  5  4  3  2  1  Böllerschuss ... Abschiedskuss ... „Komm heil wieder zurück...“ sagte mir meine Frau zum Abschied. Für mich als Ersttäter bei diesen Bieler Lauftagen ist alles neu. Jeder Meter, jeder Anstieg, jede nicht enden wollende Gerade, jeder dieser nun folgenden 100 Kilometer. Ich hatte zwar unzählige Laufberichte und Videos intensiv unter die Lupe genommen, aber in nackter Realität sieht meist doch alles anders, manchmal sogar noch schlimmer aus.

Während das Läuferfeld eine Schleife durch Biel lief, machte sich mein Frau auf, um mich auf einem Streckenabschnitt kurz hinter dem Bahnhof bei km 4 nochmals zu sehen. In Biel selbst waren erstaunlich viele Menschen an der Strecke. Der Zentralplatz war durchgängig von einer Menschenkette gesäumt, um die Läufer in die dann doch ruhigere Vorstadtviertel zu entlassen.  
„Du siehst gut aus...“ war die letzte Botschaft meiner Frau und dann übergab sie mich an die Nacht, die jetzt für einige Stunden mein ständiger Begleiter sein sollte.

Das Läuferfeld hatte sich inzwischen ein wenig beruhigt und die ersten nervösen Positionskämpfe waren abgeschlossen. Ich weiß nicht was anderen Läufer unterwegs so alles durch den Kopf geht, aber ich schaue mir oft die Läufer in meiner unmittelbaren Nähe etwas genauer an, halte Schritt mit Ihnen, falls man ein ähnliches Lauftempo hat, lasse sie ziehen, oder taste mich an Ihnen vorbei. Gerade auf den ersten Kilometer war bei mir die Aufregung noch so groß, dass ich mich noch nicht ganz auf mich alleine besinnen konnte. Kurz nach dem Einlaufen stellte sich mir mit der Lohngasse in Port beginnend, in die Jensstraße in Bellmund fortsetzend die erste Steigung in den Weg. Also Laufgang raus und den Berg marschierend erklimmen. Die allermeisten Läufer/innen in meiner Umgebung hatten die gleiche Idee. Schließlich galt es einen Höhenunterschied von über 80 Meter auf einer Länge von knapp 2 Kilometer zu überwinden. Alles Erklommene raste ich nun wieder nach Jens hinunter. Auf dem ersten Feldweg nach Kilometer 10 waren noch die Spuren des Unwetters vom Vorabend zu erkennen. Während wir 100km-Läufer der mittelschnellen Truppe noch versuchten diesen Bereich irgendwie trocken zu überwinden, schossen bereits die ersten Halb- und/oder Marathonläufer an uns vorbei und durchpflügten die ausgeprägte Seenlandschaft scheinbar ohne mit der Wimper zu zucken. Kurze Zeit später erreichte ich einen ersten Höhepunkt der Strecke. Die Holzbrücke von Aarberg. Die oftmals beschriebene und diesmal auch wieder vorhandene euphorische Stimmung begleitete das Läuferfeld über die Brücke.
Umrahmt von Menschen spuckte uns die Brücke auf einen von noch mehr Menschen gesäumten Marktplatz aus, der für die Halbmarathonläufer schon das Ende der Bieler Lauftage bedeutete. Unglaublicher Gedanke hier schon am Ende zu sein, wo es doch gerade erst beginnt richtig Spaß zu machen. Da die 100km Läufer keine Zusatzrunde in Biel laufen mussten, stand auf unserem Kilometerzähler auch erst eine unscheinbare 18. Noch galt für uns Hobbyläufer ein Gleichgewicht der Kräfte. Jeder rackerte für alleine vor sich hin. Das sollte sich jedoch in Lyss bei km 21 ändern. Rote in allen erdenklichen Rhythmen blinkende Fahrradrückstrahler unterbrachen fortan den homogenen Läuferstrom. Manche wartende Coaches drehen ihren Drahtesel sogar so geschickt den Läufern entgegen, dass das gleißende Front-LED-Licht großflächige Löcher in die bereits an die Dunkelheit adaptierte Netzhaut der Läufer fräste. Vielen Dank dafür. Ein kritischer Selbstversuch sollte doch das nächste Mal für etwas mehr Rücksicht dem ohnehin gebeutelten Läufervolk gegenüber sorgen. Es sei aber auch der Fairness wegen gleichzeitig erwähnt, dass die allermeisten Radbegleiter ihre auch schwere Aufgabe rücksichtsvoll und meist diskret wahrnahmen. In Ammerzwil angekommen hatte ich bei Kilometer 25 die zweite Steigung bei einer gestoppten Gesamtlaufzeit von 2:41 h erklommen. Mit meiner Frau abgesprochen, schickte ich Ihr alle 10km oder an markanten Punkten die entsprechende Kilometerangabe, verbunden mit einem subjektiven Stimmungswert zwischen 0 und 10, wobei 10 für „himmelhochjauchzend“ und die 0 für einen „absoluter Tiefpunkt“ festgelegt worden war. Bis 1:00 Uhr kamen auch entsprechende Motivations-SMS aus dem kuscheligen Hotelzimmer zurück. Wir hatten ihr aber ab 1:00 Nachtruhe verordnet. Es genügte ja, wenn ich mir die Nacht ohne Schlaf um die Ohren schlug. Im Pulk laufend gelang es mir diese SMS immer im Laufschritt zu schreiben.

Bei etwas Gefälle lief ich nun Oberramsern entgegen. Das Läuferfeld zog sich immer weiter auseinander. Wir 100er hatten in Oberramsern knapp 38 km zurückgelegt, während die Marathonläufer, ebenfalls bielschleifenverdonnert, hier bereits ins Marathonziel einliefen. Ab hier teilten wir, die ganz Harten, die Strecke nur noch mit den Stafetten-Harten, die diese 100km-Runde in einer Gruppe aufgeteilt, auf überschaubare Einzeldistanzen erleben wollten. Neben den Halb- und Ganzmarathonis trugen auch die Stafetten-Läufer eine entsprechende Kennung auf dem Rücken, um die Hunderter nicht durch deren meist schnelleres Tempo komplett zu verunsichern.
Jetzt folgten einige hügelige Abschnitte nach Etzelkofen. Irgendwo dort beginnt für mich auch die erste gelaufene Distanz jenseits von 42,195km. „Gratulation Hermi, jetzt bist auch du ein Ultra, zwar noch ein ganz Kleiner, aber vielleicht in ein paar Stunden auch ein ganz Großer.“ Selbstmotivation !!!

Von dort ging es nun die nächsten 20 km meist nur noch ganz leicht bergab. Es ergab sich irgendwie, dass ich nach der Verpflegung in Jegenstorf auf einmal recht alleine unterwegs war. Ich  genoss es ein wenig Musik über meinen mp3-Player zu hören. Nach einiger Zeit hörte ich ein gleichmäßiges Laufen neben mir. Nichts ungewöhnliches, denn ich versuchte ab und an auch den Laufrhythmus eines vorauslaufenden Läufers anzunehmen, um so ein wenig abschalten zu können. Inzwischen klebte dieser Mitläufer schon seit über 3 Kilometer an meinen Fersen. Was soll’s. Wir rollten gemeinsam dem nächsten Streckenhöhepunkt Kirchberg entgegen. Weitere Kilometer vergingen. Hurra, bei Kernenried überliefen wir so gemeinsam die mathematische Hälfte der Strecke nach ca. 5:20 h. Für die 100km von Biel sollte dies jedoch nicht gelten, da hier die schwere Hälfte erst bei km 75 beginnt. Eine schöne Aussicht.

Bis jetzt bin ich ganz zufrieden mit mir, denn inklusive Steigungsgehen, Ess- und Trinkpausen hatte ich bisher im Durchschnitt für 10 km genau 1 Stunde und 4 Minuten gebraucht. Am besten gar nicht weiter darüber nachdenken und Kirchberg nicht aus den Augen lassen.
Inzwischen wurde ich schon ein wenig neugierig auf meinen immer noch mittrabenden stillen Begleiter. Ich entschloss mich mal einen Blick auf ihn zu werfen. Nur so einen ganz kleinen, unscheinbaren Blick, nicht mehr und nicht weniger. Ich drehte mich um und sah .... niemanden !!! Kein Mensch weit und breit. Wie konnte das denn sein. Wir konnte ich mich über so viele Kilometer eingebildet haben, einen ständigen Begleiter gehabt zu haben. Ich nahm mir die Ohrhörer heraus, um bei klarem und ruhigem Verstand diesem Phänomen auf den Grund zu gehen. Da war es wieder das stets gleichmäßige Geräusch ganz nah links neben mir, diesmal sogar noch etwas lauter. Ich schaue wieder nach links und dann an mir herunter. Nein, das kann jetzt nicht wahr sein, das gibt es doch nicht. Scheinbar doch, denn das gleichmäßige Geplätscher meiner kleinen Notwasserflasche hatte mich seit vielen Kilometer zum Narren gehalten, hatte mir das Gefühle gegeben nicht alleine unterwegs zu sein. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt.

Mit dieser neuen wichtigen Erkenntnis lief ich nun wirklich alleine auf Kirchberg zu. Eine weit vor mir erkennbare Lichterkette wies mir den Weg zum Verpflegungsposten Kirchberg bei km 55.

Hier tobte der Mob. Nach erneuter langer Dunkelheit war ich von der hier angetroffenen Lebendigkeit schier überwältigt. Kalte und warme Schauer durchliefen mich. Der Kampf mit dem eigenen Körper erfuhr hier eine kurze, wohltuende Ruhepause. Wechselzone, Klamottenersatzdepot, Verpflegung, Massagestützpunkt, Schlafplatz und eine offizielle Ausstiegsstelle sorgten für eine riesige Menschenansammlung. Einige Läufer wurden hier von Ihren Nächsten erwartet und aufgemuntert. Eine Ärztin schaute sich jeden ankommenden Läufer an, um nach dem Rechten zu schauen. Nicht aufdringlich, aber irgendwie doch gewissenhaft. Hier machte ich eine etwas längere Erholungspause und jagte eine erneute SMS in den dunklen Nachthimmel Richtung Bieler Hotelzimmer, in dem seit Stunden eine gepflegte Nachtruhe eingekehrt war.
Ein Wort zu meiner Verpflegung: Ich habe an allen Verpflegungsstationen die Kohlenhydratgetränke des Sponsors „Sponser Sport Food“ genutzt. Dazu habe ich auch zusätzlich Wasser getrunken. An Festnahrung habe ich fast von Anfang an etwas Brot, ein Stückchen Banane und kleine Salzbrezel zu mir genommen. Cola habe ich erst ab Bibern getrunken. Auf der gesamten Strecke hatte ich so trotz dieser gemischten Verpflegung absolut keine Magenprobleme gehabt.

Nach Kirchberg ist es dann so weit, denn jetzt kommt der legendäre Emmendamm, in Teilnehmerkreisen auch „Ho-Chi-Minh-Pfad“ genannt. Dieser schmale, steinige, wurzeldurchzogene, baumumsäumte Hochwasserschutzdamm wird ab km 58 für knapp 10 Kilometer mein ständiger Begleiter. Ab dieser Stelle war ich jetzt wieder recht alleine unterwegs. 100 Meter vor mir war jedoch im Strahl meiner Stirnlampe ein Läufer zu erkennen. Er war scheinbar komplett ohne Licht unterwegs und partizipierte durch mein Näherkommen immer mehr von meinem Jumbojetlandescheinwerfer „LED Lenser H7R“ von zweibrüder. Wir liefen gemeinsam auf die nächste Gruppe auf. Ich beschloss die Führung mit meiner Lampe zu übernehmen. Einen Kilometer nach dem anderen liefen wir über den Damm. Etwas leise Musik hörend war ich der festen Überzeugung eine kleine Läuferkette über den Damm zu führen. Pustekuchen, ich drehte mich um und weit und breit war wieder niemand mehr zu sehen. Irgendwo unter einer Brückenanlage bei Utzenstorf leuchtete bereits von weitem ein Zivilisationsrichtfeuer in Form eines Verpflegungspunktes. „Wenn Du denkst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“
Zwischendurch mal angemerkt: Es ist unglaublich wie freundlich, mitfühlend und hilfsbereit die vielen ehrenamtlichen Helfer durch die ganze Nacht und den nachfolgenden Tag hindurch uns Läufern eine unglaubliche Infrastruktur liefern, damit wir 100km laufen dürfen. 1000 Dank dafür !!!
Hier bei km 62,5 schickte ich wieder eine SMS ins bestimmt immer noch schlafende Headquarter. Schließlich hatten wir jetzt auch erst 4:42 Uhr. Weiter ging‘s. Am Verpflegungsposten in Ichertswill angekommen, wollte ich mein Laufhandy zücken, um meinen Wohlfühllevel ins Hotel zu senden. Sch.... wo ist das blöde Handy. Ich krame und krame ... aber es blieb verschollen. Sch.... Sch.... Sch... wie konnte das denn jetzt passieren. Jetzt hing ich hier auf dem Straßenabschnitt nach Bibern und ließ meine Frau in absoluter Ahnungslosigkeit zurück. Nachher erfuhr ich, dass sie um 6:30 Uhr aufgewachte und erschrocken feststellen musste, dass von mir in den fast 2 vergangenen Stunden kein weiteres Lebenszeichen eingetrudelt war. Hinzu kam die zeitgleiche Nachfrage von Freunden und unseren beiden Mädels aus der Heimat: „Was macht er denn? Alles in Ordnung bei ihm?“ Darauf konnte meine Frau nur antworten: „Ich glaube wir haben ein Problem, der Kontakt ist seit fast 2 Stunden abgerissen“. Das „Houston Apollo13 Syndrom“ nahm urplötzlich Gestalt an. Dieser Abbruch sorgte natürlich für eine gewisse, verständliche Unruhe in meinem weitverzweigten, vernetzten  Betreuerstab. Alle waren vernetzt, alle hatten Kontakt, nur ich irrte ohne Verbindung durch die Nacht. Was sollte ich jetzt machen? Außer Weiterlaufen ist mir nichts eingefallen. Ein Grund mehr bis ins Ziel zu laufen, um dort die Situation möglichst früh aufzuklären. 
Das ist also das gute Stück. An dieser Stelle möchte ich mich nochmals bei dem Finder meines Laufhandys bedanken, der keine Mühen gescheut hat, dieses Teil bis ins Ziel mitzuschleppen und im Fundbüro in der Turnhalle Esplanade abzugeben. Von dort wurden wir noch vor 10:00 Uhr angerufen, dass unser Laufhandy bei ihnen abgegeben worden sei. Dort konnte sich dann meine Frau persönlich im Fundbüro für die Aufbewahrung, strengste Bewachung durch einen anwesenden Hund und die anschließende Benachrichtigung bedanken. Dies haben wir  mit einem Dankeschön für die Vereinskasse verbunden. Ich hoffe dies geht auch im Namen des (noch) unbekannten Finders in Ordnung.

Weiter ging es auf einer leicht ansteigenden geradeausführenden Passage nach Bibern. Uns Läufer sollte dort in dem Ort beginnend das L’Alpe d’Huez der Biel-Läufer erwarten.

Nach 8:18 h Laufzeit traf ich bei 76,5 km in Bibern ein. Ein Mann mit einem riesigen Blechinstrument oben auf dem Hang stehend, blies uns den Marsch. Nach einer erneuten ausgiebigen Verpflegungspause marschierte ich  wie fast alle anderen  in meiner näheren Umgebung auch den nun folgenden steilen Anstieg der Biberntraße hinauf. Den endgültigen Scheitelpunkt dieser Passage erreichte ich bei km 78,5. Jetzt lies ich es rollen. Die Oberschenkel gaben grünes Licht und ich konnte die beiden nachfolgenden Kilometer in je 5:30 min absolvieren. Im Tal in Arch angekommen, lagen nun nur noch 19 Kilometer vor mir. Die Strecke führte zumeist auf grobsandigen Untergrund der Aare entlang Richtung Büren. Diesen Ort erreichte ich nach 88 km und einer Laufzeit von 9:30 h. Ich hatte schon seit Arch die leise Hoffnung, mit einer Laufzeit von unter 11 Stunden ins Ziel zu kommen. Dieses Vorhaben schien zu gelingen auch wenn sich jetzt jeder Kilometer wie Gummi zog. Immer wieder ergaben sich wortlose Zwecklaufgemeinschaften. Man lief einige Kilometer zusammen, um dem Trott des Alleinlaufens ein wenig zu entfliehen, bevor dann der eine oder andere eine kaum erkennbare andere Geschwindigkeit wählte. Seit Kilometer 81 meldeten sich meine Beine immer mal wieder und fortlaufend in kürzeren Abständen zu Wort und versuchten mich zu einer kurzen oder gerne auch einer etwas längeren Gehpause bewegen.“Bitte, bitte, bitte ... nur ein Paar Meterchen... komm, sei nicht so“ „Solange ihr keine Schmerzen und Krämpfe habt, wird weitergelaufen, Schluss aus ende, ich kann und will dieses Gejammer nicht mehr hören“ entgegne ich ihnen schnippig und ohne jede erkennbare Spur von aufflackernder Empathie. Da konnte ja jetzt jeder kommen. Die viel beschworene Willenskraft führte auf diesen letzten 20 Kilometer einen nicht für möglich gehalten, aber erfolgreichen Kampf gegen die immer lauter maulenden Fortbewegungsextremitäten. Das Buch „Willenskraft“ von Christian Bischoff hat mir hier sehr wertvolle Hilfe geleistet. In Brügg schnappe ich mir als letzte Verpflegung nur einen Becher Wasser und einen Becher Cola. Das muss reichen, schließlich sind es nur noch 3 Kilometer bis ins Ziel. Ich laufe durch fast menschenleere Straßen der Bieler Vorstadtviertel. Die letzte Passage kannte ich bereits von den Bildern, die als Streckenführung unter der genialen Infoseite 99km.ch einsehbar sind. Ein großes Dankeschön an den Webmaster dieser Seite, der über die Informationen der offiziellen Laufhomepage der Bieler Lauftage hinaus, tiefgründige und wissenswerte Hinweise gerade für Ersttäter bereitstellt und stets aktualisiert. Noch 2 Kilometer. Jetzt hatte ich langsam aber sicher wirklich keine Lust mehr zu laufen. Die Beine wittern spontan Morgenluft. Nichts da, es wird weiter gelaufen. Eine lange Gerade am Ende mit einer eigentlich lachhaften Steigung sorgte nochmals für die letzte große Quälerei. Noch 1 Kilometer. Er wollte einfach kein Ende nehmen. Das Kopftheater nimmt spontan amokhafte Züge an. Endlich sah ich nach einer unscheinbaren Rechtskurve das Kongresszentrum von hinten. Jetzt trennten mich maximal noch 300 Meter vom Ziel. Ein Spalier wies mir den Weg. Noch 2 Linkskurven und das Ziel lag ausgebreitet, einzig auf mich wartend vor mir. Keine 100 Meter trennten mich von meiner größten Laufleistung, die ich je vollbracht hatte. Ich hörte den Sprecher meinen Namen sagen. Irgendwie bekam ich nicht mehr alles mit was er sagte. Ich sehe meine Frau im Zielkorridor. Selbst beim Schreiben dieser Zeilen erlebe ich wieder diese bereits vor Tagen gefühlte Achterbahnfahrt meiner Gefühlswelt. Unvorstellbar, nicht steuerbar, überwältigend, einfach schön. Irgendwie wollte ich mich auf den letzten Metern still freuen, laut schreien, jubeln und losweinen zugleich. Ich wollte was sagen, doch ein großer Kloos im Hals würgte den Satz ab. Immer wieder.

Das sind Emotionen, selbst gemacht und selbst erlebt. Das ist purer, lebendiger, echter Sport, das ist Laufsport !!!

Meine Frau hatte meine letzte gemeldete Durchgangszeit, mein bisher recht gleichmäßiges Lauftempo einfach mal linear hochgerechnet, um mich dann rechtzeitig und überglücklich in Empfang zu nehmen.

Wer es noch nicht erlebt hat, kann vieles in dem Bericht vielleicht nicht nachempfinden. Ich bin froh und stolz zugleich als M50-Ersttäter nach 10 Stunden und 51 Minuten das Ziel in Biel durchlaufen zu haben.
 
Die 54. Bieler Lauftage stehen für meine 1. Teilnahme an dieser einzigartigen Laufveranstaltung. Bis kurz nach dem Zieleinlauf war ich mir ziemlich sicher, dass dies auch für alle Ewigkeit meine letzte Teilnahme bleiben wird. Aber mit einigen Tagen Abstand sieht das inzwischen schon wieder ganz anders aus. Der Schmerz geht, der Stolz bleibt.

Wiederholung des zu Beginn bereits gezogenen Fazits, denn es kann gar nicht oft genug gesagt werden:

An alle Laufsportbegeisterten: Diese einzigartige Veranstaltung hat zukünftig wieder mehr Teilnehmer verdient, denn was Herr Etter, sein Organisationsteam, die öffentlichen Behörden der Stadt Biel und alle ehrenamtlichen Helfer hier auf einer Länge von 100km auf die Beine stellen, sucht seinesgleichen. Es hat aus meiner Sicht wirklich alles hervorragend funktioniert.

Meine Aufzeichnung mit der Garmin 910XT

Schuhvergleich:
 vorher
nachher

Dieser Schuhvergleich steht stellvertretend für den Nagel meines linkes Großzehs. Bereits leicht angeschlagen, hatte er wohl den größten Anteil an Reibungsbelastung zu ertragen. Ob er sich nach dieser Belastung erholen wird, ist noch nicht komplett absehbar. Falls er doch aufgeben sollte, ist das Nachrücken seines Nachfolgers bereits beschlossene Sache. Bemerkt hatte ich diesen drohenden Verlust auch erst nach dem Lauf, da er wie alle anderen Körperteile und Organe voll konzentriert auf seine Arbeit fixiert war und auch nicht durch memmenhaftes Herumlamentieren unangenehm auffallen wollte. An dieser Stelle auch einen großen Dank an ihn fürs Durchhalten.
Trotz all meiner Bemühungen und großzügigen Angebote hat der Großzeh jedoch die Veröffentlichung einer bildlichen Gegenüberstellung kategorisch untersagt und mich zu dem unspektakulären Vergleich mit den oben dargestellten Laufschuhen überredet. Aus diesem unnötigen Rechtsstreit habe ich eine Lehre gezogen und werde mir für das nächste Mal die uneingeschränkte Nutzung möglicher Vergleichsbilder bereits vor dem Lauf schriftlich bestätigen lassen. Wer ist denn hier schließlich Herr im Haus ...... ICH und sonst niemand !!!


Ein herzliches Danke an alle, die mich direkt und indirekt unterstützt haben von dem „Blogger“ aus dem Siegerland / NRW / D.

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